Dersim Edebiyatı
Der Geschmack der Sprache: Haydar Karataş’ Lesung von “Nachtfalter | Perperık-a Söe”
Haydar Karataş stellte bei der türkisch-deutschen Autorenlesung am 26. Oktober 2016 seinen Roman “Nachtfalter | Perperık-a Söe” vor und gab dabei einen Einblick in den „Geschmack der Sprache“.
Der Roman erzählt die Ereignisse der türkischen Provinz Dersim 1937/38 und wurde vom Autor mehrfach verfasst, da seine Aufzeichnungen durch gewaltsame wie natürliche Umstände verloren gingen. Der im Oktober 2016 auf Deutsch veröffentlichte Roman wurde nicht nur auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt, sondern auch bei der Kiezlesereise. Er rief überall turbulente Reaktionen hervor.
Aller guten Dinge sind drei
Haydar Karataş‘ Roman “Nachtfalter | Perperık-a Söe” hat eine fast abenteuerliche Entstehungsgeschichte. Durch sein Engagement bei einer linken Organisation wurde der Autor 1992 inhaftiert. Während seiner 10-jährigen Gefängniszeit verbrachte er 6 Monate in Einzelhaft. Das bedeutete 6 Monate ohne andere Menschen, ohne Konversation, ohne Stift und ohne Block. Danach konnte er keine Sachbücher mehr lesen, sondern widmete sich einzig literarischen Werken.
Noch während seiner Zeit in Haft begann Haydar Karataş an seinem eigenen Roman zu schreiben. Er besänftigte so den Zorn, der sich nicht nur durch ein halbes Jahr Einzelhaft in ihm aufgebaut hatte. Zum ersten Mal entwickelte der Roman sich zwischen 1996 und 2000. Von acht Heften, in denen der Autor seinen Roman in Zazaki niederschrieb, ist lediglich Heft fünf noch bei ihm. Die restlichen Aufzeichnungen wurden allesamt beschlagnahmt.
Übrigens: Türkisch erlernte Haydar Karataş erst in der Schule. Seine einzige Sprache bis zum sechsten Lebensjahr war Zazaki, auch Zaza-Sprache oder Zazaisch genannt. Zum iranischen Zweig der indogermanischen Sprachen gehörend, wird sie vor allem in Ostanatolien gesprochen, ist aber auch in Europa verbreitet. Schätzungsweise zwei bis drei Millionen Menschen sprechen diese Sprache weltweit.
Ein zweites Mal verfasste Haydar Karataş seinen Roman, belebte ihn auf Türkisch wieder, nur um sämtliche Arbeiten durch ein Erdbeben in der Türkei erneut zu verlieren. Er emigrierte 2003 in die Schweiz, wo er seither lebt und arbeitet.
Erst 2007, beim dritten Anlauf, gelang es Haydar Karataş, den Roman zu rekonstruieren. “Gece Kelebeği” erschien 2010 auf Türkisch und wurde von der türkischsprachigen Literaturkritik hoch gelobt.
Im J&D Dağyeli Verlag GmbH Berlin wurde der Roman von Sara Heigl auf Deutsch übersetzt und in Zusammenarbeit mit Haydar Karataş vervollständigt durch Passagen, die in der türkischen Fassung entfernt wurden. 2016 wurde die deutsche Ausgabe “Nachtfalter | Perperık-a Söe” veröffentlicht.
“Nachtfalter | Perperık-a Söe”
Der Titel des Buches “Nachtfalter | Perperık-a Söe” bezieht sich auf eine Geschichte im Roman. Auf der Flucht zu einem sicheren neuen Zuhause schenkt eine Mutter ihrer Tochter eine geflochtene Puppe, gebastelt aus Weidenruten und Ästen, mit Blättern als Kleid, Haar aus Gräsern und einem Rock aus gelben Eichenblättern, ähnlich den Flügeln eines Falters. Diese Puppe heißt „Perperık-a Söe“ – „Nachtfalter“ auf Zazaki – und lenkt das Mädchen von der schrecklichen Realität um sie herum ab.
Die Ereignisse im anatolischen Dersim (heute Tunceli) in den Jahren 1937/38 stehen im Mittelpunkt des Romans. Die gewaltsame Nationalisierung des Dersim und die damit einhergehenden Auseinandersetzungen zwischen Regierung, Rebellen und Zivilisten brachte einige Tausend Menschen um ihr Leben und viele andere um ihre Heimat. Haydar Karataş‘ Mutter war von den Geschehnissen im Dersim als Kind so stark traumatisiert, dass sie 9 Jahre nicht mehr sprach.
Bei einem Besuch in Haydar Karataş’ Schweizer Exil teilte sie die Erlebnisse ihrer Kindheit mit dem Autor, der diese Erinnerungen mit dem Roman „Nachtfalter“ nun wieder aufleben lässt. Er schöpft aus den Lebensgeschichten seiner Mutter und seiner Großmutter, auf denen die beiden Hauptfiguren des Romans, Tochter und Mutter, beruhen.
Der Roman spiegelt die Traditionen und die Alltagskultur des heimatlichen Dersim. Traditionelle Märchen, Mythen und Legenden werden lebendig. Zugleich schildert der Roman die politischen Ereignisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und deren Folgen für die Bevölkerung – aus der Sicht eines kleinen Mädchens, dessen Mutter in den Bergen ums Überleben kämpft.
„Nachtfalter“ ist der zweite Teil einer Trilogie. Das erste Buch aus dem Jahr 2012 namens „On İki Dağın Sırrı | Das Geheimnis der zwölf Berge“ erzählt die Geschichte der Männer, von den Menschen im Berggebiet, Heiligtümern und der Angst vor der neuen Zeit. „Nachtfalter“ als zweites Buch schildert die Erlebnisse der Zurückgebliebenen, meist Frauen und Kinder. Momentan schreibt Haydar Karataş am dritten Buch, in dem die Menschen nach dem Aufstand wieder in ihre Heimat zurückkehren.
Akustische Untermalung mit der saz
Ein guter Freund von Haydar Karataş ist der Musiker Imam Özgül. Instrumental begleitet auf der Langhalslaute saz, trug er mit ruhiger, tiefer Stimme Türkü vor, türkische Volkslieder. Das Instrument saz spielt eine wichtige Rolle für die traditionelle Musik in der Türkei und auch im Roman „Nachtfalter“ kommt es vor. Die akustische Untermalung war ein stimmungsvoller Einstieg in den Abend.
Der Geschmack der Sprache
Haydar Karataş las aus seinem Roman „Nachtfalter“ auf Türkisch vor und gab damit einen Einblick in den „Geschmack der Sprache“, wie er es nannte. Er ließ uns die Sprache auf der Zunge fühlen und im Ohr spüren. Begleitet wurde er von Jeanine Dagyeli und Mario Pschera vom Dagyeli Verlag. Jeanine Dagyeli übersetzte während der Diskussion vom Türkischen ins Deutsche, Mario Pschera las die deutschen Texte.
Passagen aus dem Roman wurden vorgestellt und zwar nicht immer ganz geplant, sondern ab und an spontan. „Ich weiß noch nicht, wo er liest. Manchmal improvisieren wir etwas …“, sagt Mario Pschera an einer Stelle und blättert mit Haydar Karataş in den verschiedenen Ausgaben der Bücher.
Aktuelle Situation in der Türkei und Dankesworte
Bei der Lesung waren die Emotionen im Publikum deutlich spürbar. Die Geschichte über den Dersim, die unterschiedlichen Ansichten von Regierung und Bevölkerung gingen einfach nah. Es ist ein sensibles Thema, das gerade durch die derzeitige Lage so brisant ist. Das aktuelle Geschehen in der Türkei und die Inhaftierung von Politikern wie Autoren war ein Thema, das wie ein roter Faden durch den Abend führte.
Haydar Karataş nutzte zum Ende hin die Gelegenheit, um sich bei Freunden und Kollegen zu bedanken, die ihn im Publikum unterstützten und teilweise auch mit ihm gemeinsam im Gefängnis einsaßen. Unter ihnen waren:
- Gönül Kıvılcım, Journalistin und Schriftstellerin aus der Türkei, sieben Romane
- Nabi Kımran, Schriftsteller, zwei Romane
- Demir Küçükaydın, Schriftsteller
- Kemal Cemgil, Lyriker (Türkisch und Zaza-Sprache)
- İbrahim Beyaz, Schriftsteller (Zaza-Sprache)
Diese Autoren und Journalisten verfassten, so Haydar Karataş, wichtige Texte zum Islam und über die Türkei. Noch am selben Abend schrieb er in einem Berliner Restaurant Postkarten an befreundete Schriftsteller, die sich aktuell in der Türkei in Haft befinden, und betonte, wie sehr sie auf der Frankfurter Buchmesse vermisst wurden.
Das war die zweite Lesung der 3. Kiezlesereise
Die zweite Autorenlesung der 3. Kiezlesereise am 26. Oktober 2016 fand im To Spiti in Nord-Neukölln statt. Vielen Dank an Maria Aplada und ihr Team, dass wir zu Gast sein dürften.
Stuhl um Stuhl musste herangetragen werden, bis der Raum mit über 50 Menschen voll besetzt war. Es gab einige Wiederholungstäter im Publikum, viele waren mehrsprachig und alle sehr interessiert. Danke fürs Zuhören und Diskutieren vor, während und nach der Lesung.
Ganz herzlichen Dank an den Autor Haydar Karataş für das Lesen aus dem Roman “Nachtfalter | Perperık-a Söe”, das Diskutieren und das Signieren der zahlreichen mitgebrachten und frisch erstandenen Bücher. Ein großes Dankeschön geht auch an Jeanine Dagyeli und Mario Pschera vom Dagyeli Verlag für die Unterstützung im Vorfeld wie auch vor Ort. Dem Roman drücken wir die Daumen, dass er in den Bücherregalen genauso großen Anklang findet wie auf dem Büchertisch bei der Kiezlesereise.
Ein Text von Yvonne Geister